
Liebe Genossinnen und Genossen aus Lateinamerika und der Welt, die uns
besuchen: Wir heißen euch herzlich Willkommen. Wir senden euch Grüße aus
unseren Gemeinden, von den Feldern, den Straßen, den Fabriken, den
Universitäten und allen Orten, die von denen, die den Traum einer demokratischen
und populären Revolution zerstört haben, nie betreten werden. Wir würden euch
gerne unsere Gemeinden einladen, um euch eine Realität zu zeigen, die sich von
der offiziellen Darstellung unterscheidet. Wir möchten mit euch über folgende
Punkte sprechen:
- ARBEIT
Die materiellen Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse: Wir, die von unserer
Arbeit leben, kämpfen seit fast einem Jahrzehnt ums Überleben – mit den
niedrigsten Einkommen weltweit und dem fast vollständigen Verlust der im 20.
Jahrhundert erkämpften Rechte. Das Konzept der Lohnarbeit wurde zerstört und
unsere Kinder, Geschwister, Eltern und verlassen das Land, um nicht zu
verhungern. Der Lebensstil und Konsum der herrschenden politischen Elite steht
in krassem Gegensatz zu der Situation, in der venezolanische Migrant:innen in
euren Ländern leben, völlig vernachlässigt von den diplomatischen Vertretungen
unseres Landes.
Die Regierung, geführt von einer politischen Elite, spricht von Sozialismus,
veranstaltet jedoch regelmäßig protzige Abendessen in Hotels, Restaurants und im
Regierungspalast, während Tausende Kinder hungrig ins Bett gehen. Sie reden von
der wirtschaftlichen Erholung des Landes, aber die Löhne sinken weiter. Wohin
geht das Wirtschaftswachstum? Wer profitiert davon? Die arbeitende Bevölkerung
ist es jedenfalls nicht.
- POLITIK
Die politischen Freiheiten der arbeitenden Menschen sind in einer dramatischen
Lage: Das Recht auf Streik und Protest in Venezuela ist praktisch ausgesetzt. Es gibt
keine Möglichkeit, arbeitsrechtliche Forderungen durchzusetzen. Die
Arbeiter:innenklasse kann nicht protestieren, wie es in euren Ländern üblich ist,
ohne sofort als Verschwörer oder Verräter verleumdet zu werden. Würdet ihr das
in euren Ländern akzeptieren? Dutzende Arbeiter:innenführer und Beschäftigte
stehen vor Gericht, werden verfolgt oder sind inhaftiert – nur weil sie eine
Lohnerhöhung gefordert haben. Allein aus Perspektive der Unterdrückten
rebellisch zu denken und dies offen auszusprechen gilt schon als Verbrechen und
reicht aus, um die Funktionäre und neuen Reichen gegen sich aufzubringen.
- DEMOKRATIE
Ohne die Linke gibt es keine Demokratie: Innerhalb des PSUV existiert die Linke
nicht einfach organisch – weder in der politischen und intellektuellen Führung
noch auf Ebene der Aktivist:innen an der Basis. Diejenigen, die sich dem von
Chávez skizzierten Projekt der Soberanía y Poder Popular verbunden fühlen,
werden durch Sektierer blockiert, die den neoliberalen Konsens verteidigen. Alle
linken Parteien, die Chávez einst unterstützten, sind heute kriminalisiert, unter
staatliche Kontrolle gestellt, und ihre rechtmäßigen politischen Führungen
Vertretung beraubt. An ihrer Spitze stehen von den Machtorganen eingesetzte
Marionetten, die sich ihren Gehorsam bezahlen lassen und Organisationen
zersetzen, die auf jahrzehntelange Tradition und Kämpfe zurückblicken.
Kritik, die in vielen Ländern selbstverständlich ist, führt in Venezuela zur sofortigen
staatlichen Intervention gegen politische Organisationen. Doch die Linke bleibt in
den Territorien und an der Basis aktiv. Sie bewahrt die Träume von einer besseren
Zukunft und baut neue Hoffnung auf. Für die Regierung bedeutet Politik nichts
anderes als Gehorsam gegenüber ihren Entscheidungen. Der rebellische Geist von
Chávez lebt nur noch in Parolen und der offiziellen Inszenierung auf
Parteiveranstaltungen fort. Der Regierung ist es gelungen, Chávez seines
populären und revolutionären Wesens zu berauben.
- FASCHISMUS
Immer wenn politische Spannungen in Venezuela zunehmen, schürt die Rechte
Wellen von Hass und faschistischer Gewalt. Der Faschismus hat in Venezuela
tatsächlich an Boden gewonnen – sowohl bei den traditionellen konservativen und
sozialdemokratischen Parteien, die sich nun offen anti-sozialistisch zeigen, als auch
innerhalb der PSUV, die den neoliberalen Postsozialismus zu ihrer Ideologie
gemacht hat.
Diese Entwicklung öffnet den Weg für einen Konsens, der in einem neuen
Gesellschaftspakt zwischen Regierung und Opposition münden könnte – ein Pakt,
der die demokratischen Freiheiten und die hart erkämpften Rechte der
arbeitenden Klasse und der einfachen Bevölkerung bedroht.
In Venezuela entsteht ein Neofaschismus, bei dem Regierung, PSUV und die
extremistische Rechte der Opposition gemeinsam als Geburtshelfer agieren.
Dieser neue Faschismus wird durch einen inhaltsleeren antifaschistischen Diskurs
verschleiert, der in der venezolanischen Realität keinerlei Entsprechung findet.
Man sollte sich fragen: Warum gibt es in Venezuela keinen Fortschritt beim Recht
auf Abtreibung, bei der Ehe für alle oder bei der Legalisierung von Marihuana?
Warum werden das Streikrecht und andere erkämpfte Arbeitsrechte immer weiter
eingeschränkt, während die Angst vor abweichenden Meinungen wächst? Warum
wurden nach dem 28. Juli Dutzende Jugendliche verhaftet, und warum wurden sie
sowohl von der Regierung als auch von der rechten Opposition im Stich gelassen?
Der sogenannte Antifaschismus erweist sich als Farce, hinter der sich ein
neoliberaler Autoritarismus verbirgt. Die sozialen Proteste nach dem 28. Juni waren
überwiegend populär und friedlich, – faschistische und gewalttätige Elementen
fanden sich nur am Rande. Dennoch wurden sie durch Kriminalisierung sowie
staatliche und parastaatliche Repression massiv unterdrückt.
Abseits des Wahlkonflikts verlangt die Fortführung von Ausbeutung und
Enteignung sowie die Verteidigung der Kapitalinteressen eine immer weitere
Verfeinerung juristischer, politischer und ideologischer Instrumente, um soziale
Konflikte und Klassenkampf zu kontrollieren und einzuhegen.
Gesetze und Gesetzesvorschläge wie das Gesetz gegen die Sanktionen, das Gesetz
gegen den Hass, das sogenannte Antifaschismus-Gesetz, die Regelungen zu
Nichtregierungsorganisationen und Änderungen des Wahlrechts zielen heute
darauf ab, diese Mechanismen der Herrschaft zu festigen – unter dem Vorwand,
einer angeblichen faschistischen Bedrohung entgegenzutreten.
- GEOPOLITIK
Der Antiimperialismus wird mit Chevron gefeiert: Oft werden die Sanktionen für
die Verschlechterung der sozialen Bedingungen verantwortlich gemacht. Doch
begann der Niedergang bereits vor deren Einführung und hat sich durch sie
lediglich weiter verschärft. Der Anstieg der Ölproduktion in den letzten Jahren
dient primär dazu, die Energieversorgung der Gringos sicherzustellen – jener
Nation, die angeblich bekämpft wird. Gleichzeitig wird den USA gestattet,
venezolanisches Öl zu fördern, ohne der Nation auch nur einen Cent
zurückzugeben. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben wir in Venezuela noch nie
unter so neokolonialen Bedingungen Öl verschenkt. Die Einnahmen bewirken
kaum eine Verbesserung des Alltags der Menschen. Der deklarierte
Antiimperialismus entpuppt sich als hohle Parole, die den neuen Reichen
Venezuelas zur Identitätsstiftung dient.
- NEOLIBERALISMUS
Wie sich die Bourgeoisie in Venezuela konstituiert: In Venezuela hat sich die
Bourgeoisie durch die Aneignung der Erdölrente, Vorteile auf dem Devisenmarkt,
Importlizenzen sowie Zoll- und Steuerbefreiungen gebildet. Der Zugang zu
politischer Macht ist die entscheidende Hürde, die es zu überwinden gilt, um reich
zu werden. Aus diesem Grund kämpfen sowohl die konservative Rechte als auch
der Madurismus erbittert um die Kontrolle der Regierung: Beide Gruppen sind Teil
der alten und neuen Bourgeoisie. Es gibt kein revolutionäres oder widerständiges
Produktionsmodell; was vorherrscht ist die Ausbeutung natürlicher Ressourcen
und die Liberalisierung der Wirtschaft.
- LAND
Die Ländereien, die Chávez einst der Landbevölkerung übergab, kehren heute in
die Hände der Großgrundbesitzer zurück: Das zamoranische Ideal «Land für
diejenigen, die es bearbeiten», das Chávez einst vertrat, ist heute nur noch eine
Karikatur. Das, was der Bevölkerung einst gerecht zugesprochen wurde, wird ihr
nun wieder genommen. Die alten Landbesitzer fühlen sich unter der Regierung
Maduros wieder gehört und berücksichtigt. Darüber hinaus wurden in den letzten
Jahren 12 Millionen Hektar Land in der so genannten „östlichen
Agrarwirtschaftszone“ an die internationale Agrarindustrie übergeben.
- PRODUKTION
Abschied von den zurückgewonnenen Fabriken: Die Regierung Maduro hat
kürzlich 350 öffentliche Unternehmen an die in Conindustria organisierte
Bourgeoisie übergeben, um Vereinbarungen mit allen Fraktionen der Bourgeoisie
zu schließen. Währenddessen warten die Arbeiter:innen dieser Unternehmen
weiterhin auf die Auszahlung ihrer Abfindungen und Sozialleistungen: Es ist ein
«Friede zwischen Reichen» und eine Abmachung zwischen Skrupellosen.
- BOLIVARIANISMUS
Demokratie auf dem Boden des Bolivarianismus: 1996 rief Chávez uns auf, mit der
politischen Waffe der Demokratie eine Revolution aufzubauen. Millionen
Venezolaner:innen folgten ihm nicht nur, sondern entwickelten auch
fortschrittliche Formen der Partizipation. Heute jedoch beschränkt sich die
Demokratie auf Wahlen, deren Ergebnisse den Wünschen und Bedürfnissen der
Herrschenden angepasst werden. Die Wahl vom 28. Juli, an dem Millionen
Venezolaner:innen teilnahmen, wurde zur Farce. Der Nationale Wahlrat (CNE)
setzte sich über das Gesetz und die demokratische Tradition Venezuelas hinweg,
ignorierte das Wahlrecht und verstieß gegen den Volkswillen. Auch Monate nach
der Wahl hat das Volk immer noch keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob sein Wille
respektiert wurde. Demokratie ist keine Frage des Glaubens, sondern ein durch die
Bürger:innen überprüfbarer und kontrollierbarer Prozess. Ohne politische
Demokratie werden die Möglichkeiten der Arbeiter:innenklasse, einen eigene
Stimme zu vertreten, weiter eingeschränkt.
- CHÁVEZ
Das Projekt von Chávez wurde verraten: Ein neuer Chávez wurde erschaffen,
passend zu den Interessen derjenigen, die die Macht innehaben – eine
revolutionäre Karikatur. Währenddessen erinnert sich das Volk auf den Straßen an
den Chávez des „Por Ahora“ von 1992, das Symbol, das zurückkehren wird, wenn
der Widerstand gegen den maduristischen Verrat am bolivarianischen
revolutionären Projekt wiedererstarkt. Chávez wurde verraten, und das Volk weiß
es.
- VERFASSUNGSREFORM
Im Jahr 1999 gaben wir uns eine Verfassung, die im Geist der sozialen Gerechtigkeit
steht. Das gesamte Projekt zur radikalen Transformation der venezolanischen
Gesellschaft ist in dieser Verfassung enthalten, die wir in einer Zeit des Aufstiegs
der populären Beteiligung entworfen und per Referendum verabschiedet haben.
Der Versuch, diese Verfassung zu reformieren, während neoliberale und autoritäre
Ideen auf dem Vormarsch sind, kann nur einen Rückschritt für diesen rechtlichen
Rahmen bedeuten. Mit Chávez sagen wir: “Innerhalb der Verfassung alles,
außerhalb von ihr nichts.”
- ORGANISIERUNG
In Anlehnung an den guaranischen Schriftsteller Tadeo Zarratea sagen wir: „Wir
wollen weder den Kommissar noch den Richter austauschen. Das wird nichts
ändern. Was uns bedrückt, ist unsere Realität, und genau diese wollen wir
verändern. Wir organisieren uns, um unsere Lebensrealität zu verändern. Bitte
versteht, dass das Volk nicht im Regierungspalast sitzt.“
- UNTERSTÜTZUNG
Wir möchten mit den populären Bewegungen und den stets kämpfenden linken
Kräften zusammenkommen: Wir möchten mit euch diskutieren, aus der
Perspektive von Menschen, die sich organisieren und Widerstand leisten. Wir
wissen, dass ihr in euren Ländern Kämpfe führt und begleitet. Heute bitten wir
euch, die Kämpfe des venezolanischen Volkes zu unterstützen – und nicht das
Überleben derjenigen, die im Namen des Volkes von der Macht profitieren.
Abschließend eine kurze Reflexion: In Venezuela haben in den letzten 25 Jahren
zwei politische Prozesse parallel existiert: eine Revolution und eine Regierung. Über
viele Jahre hinweg wurde die Revolution, getragen von sozialen Bewegungen,
Gewerkschaften, Organisationen und politischen Parteien, von Hugo Chávez
geführt. Sie erreichte historische Erfolge beim Aufbau eines sozial
transformatorischen Modells und förderte Produktion, Arbeit, Organisation,
Rebellion und eine gerechte Umverteilung des Wohlstands – stets im Widerstand
gegen den Imperialismus und die heimatlosen Bourgeoisien. Unter Chávez gelang
es, die Regierung zu übernehmen, was entscheidend zur Beschleunigung der
Errungenschaften der Revolution beitrug. Mit Chávez an der Spitze verfolgte die
Regierung eine revolutionäre und populäre politische Richtung. In den letzten
zehn Jahren jedoch hat die bolivarianische Revolution an Bedeutung verloren und
findet sich nicht mehr in den Maßnahmen der aktuellen Regierung wieder. Die
Ergebnisse sind offensichtlich, und einige davon haben wir in diesem Dokument
angesprochen, um sie mit euch zu diskutieren. Lasst euch nicht täuschen: Die
Regierung zu unterstützen bedeutet nicht, die Bolivarianische Revolution zu
unterstützen.
Wir laden euch ein, am Aufbau dieser anderen Vorstellung von sozialer
Gerechtigkeit teilzuhaben, an dessen Aufbau unser Volk – auch wenn es manchmal
ruhig erscheinen mag – dennoch weiterhin unermüdlich und rebellisch wirkt.
Lxs Comunes, Januar 2025